Sonntag, 2. Oktober 2011

Was bedeutet mir Familie?

Im Folgenden die geballte Wettbewerbsbeitrag-Ladung:


Was bedeutet mir Familie?


Meine Worte hallen nach… in allen Ecken meines Kopfes reibt sich ein Echo wie Säure an den Knochen. Meist für Stunden, oft für Monate hält dieser selbstverschuldete Zustand äußerster Reue und Wut an, der mich zur erbärmlichsten aller sozial Inkompetenten macht: der Tochter. Furienartig falle ich über nichtige Verfehlungen meiner Eltern her, weide jeden inhaltlichen und sprachlichen Makel ihrer Erzählungen aus und zerfetze unsere zarten Bande mit Worten puren Giftes, die mich dennoch in treuliebende Augen blicken lassen, in denen ich mich in all meiner Hässlichkeit spiegle. Unaushaltbare fünf Jahre dauert meine erst pubertär rebellische, mittlerweile von reinem Überlegenheitsgefühl genährte Schreckensherrschaft nun an, die unsere arbeitsame und stets aufgeschlossene Familie auf das soziale Niveau einer Wohngemeinschaft  heruntergewirtschaftet hat. Meine Prioritäten standen schon vor Jahren fest. Davon zeugt ein Eintrag, den ich als Neunjährige meinem Tagebuch anvertraute: „25.12.00 – Heute habe ich meine Weihnachtsgeschenke ausprobiert: eine CD ´Top2000’ und 21 Computerspiele. Doch dann hat mein Papa mich geärgert und ich habe geschrien. Papa hat mich angeschnauzt. Wegen Papa habe ich Digimon verpasst!“ Mit einem Mal spuckt mein permanent gereiztes Gehirn einen überwältigenden Schwall an Erinnerungen aus, die sich  wie milchige Glasbausteine vor meinen nervös rasenden Pupillen aufbauen. Ich halte die Luft an und lasse mich in einen Pool von Gedankenfragmenten fallen, die mein Herz zusammenpressen, als würde sich eine Faust um das taktfern pumpende Organ ballen. Meine Augen schließen sich, als mein Zimmer vor ihnen verschwimmt und ich bin da: Es ist der 15. Juli 2009. Meine nackten Füße finden Halt auf unseren kalten Wohnzimmerfliesen, als plötzlich eine euphorische Stimme unermüdlich meinen Namen ruft. Vom Fenster aus blicke ich hinunter in unseren Garten und traue meinen Augen nicht: Anlässlich meines 18ten Geburtstags hat mein Vater dort für alle Nachbarn sichtbar ein Gedicht aus Kaninchendraht und Teerpappe geschaffen. Eine aufstellbare braune 18 ziert den Rasen. Unsere Nachbarschaft reagiert, wie sie es immer tut: „Die Intellektuellen“ verschließen die Fenster – die „Gegenpartei“ jubelt. An dieser Stelle sei erwähnt, dass auch die Anwohnerbetitelungen der Feder einer Neunjährigen entspringen. Gedankenverloren starre ich in das zufriedene Gesicht meines Vaters und weiß, dass er alles für seine Familie tun würde. Ihm verdanke ich meinen Humor, meine Schwäche für Baumkuchen und Butterlinsen, meine Mutter, mein Singledasein, meinen Lieblingssong, meinen Lieblingsnachtisch – mein Leben. Während die Erinnerung langsam silbrigen Glanz ansetzt und schließlich vergeht, frage ich mich, ob ich gerade verliere, was ich überhaupt nicht verdient habe. Die Glasbausteine ordnen sich neu an und ich erlaube mir einen weiteren Blick in zurückliegende Tage. 2007: Voller Erwartung und Neugierde erwarten meine Eltern die Ankunft eines annehmbar frisierten jungen Mannes, den ihre 16jährige Tochter nach langem Hin und Her als ihren Freund enthüllt hatte. Als eben dieser präventiv hochgeschätzte Herr eintrifft, sehe ich nur noch, wie mein Vater ihn in den Mikrokosmos seiner Plattensammlung entführt. Zwischen den Vorträgen über Bob Dylan, Queen und Pink Floyd serviert meine hypernervöse Mutter uns Kaffee in peinlichen Zusammenstecktassen mit „I LOVE YOU!“- Aufdruck. Heute kann ich über all das lachen. Damals war das Maß voll. Scham schlug um in Angst, Nervosität in Aggression und Hass war das Produkt meiner endlosen Wut über diese eigentlich charmante Aktion meiner Mutter. Sowie mein Herzensbube die Flucht ergriffen hatte, begann ich meiner Mutter aufzuzeigen, was für eine unfähige dumme Gans sie in meinen Augen doch war. Es schien, als würde jede Silbe des Zorns im Pazifikblau ihrer traurigen Augen versinken, während der Kloß der Reue in meinem Hals größer wurde – ich mich jedoch nicht mehr bremsen konnte. Gerade frage ich mich, ob andere Eltern ein ähnlich schweres Schicksal haben, da fällt mir auch schon ein, welche Einblicke mir jüngst gewährt wurden, als ich Joakim, den besten Mitschüler von allen zu seiner Familie befragte. Dass Joakim des Öfteren in schwer zu betitelnden Etablissements versumpfte, war für seine Eltern kein Grund zur Besorgnis, da die Polizei „ihren Kleinen“ bisher immer zuverlässig aufgegabelt hatte, bevor er Kontakte zu Dealern, Nutten, Menschenhändlern, den Hell´s Angels oder Schmuckverkäufern hätte herstellen können. Nach dieser Offenbarung klimperte der beste Mitschüler von allen mit seinen grauen, von unverschämt langen Wimpern gesäumten Augen und nahm meinen entsetzten Blick zur Kenntnis. Zitat: „Keine Angst, meine Alten sind schmerzfrei!“. Ich beschloss, ihm zu glauben. Was mag wohl das Schlimmste sein, das ich meinen Eltern je angetan habe? Die unzähligen Lügen als Antwort auf die Frage nach dem beabsichtigten Aufenthaltsort nach Verlassen des Hauses? Oder sind es doch die vielen Teppichfliesen, die ich in einem Anflug von Kreativität mit Tusche, Heißkleber, geschmolzenem Metall, Kerzenwachs und den ganzen kleinen Perlen versaut habe, die so schön im Sauger für Defekte sorgen? Vielleicht waren es auch die haltlosen Anschuldigungen und Drohungen in aller Öffentlichkeit, die den örtlichen Juwelier einen kleinen Knopf unterhalb seines Verkaufstresens drücken ließen… Nein. Mit meiner ersten heimlich organisierten Suffparty sollte ich die Geduld meiner Eltern arg auf die Probe stellen… Am Abend des 28.10.09 beschloss ich, spontan ein paar Freunde in unserem Wohnzimmer zusammenzupferchen, um sie angemessen auf Halloween einzustimmen. Meinen Eltern, die an diesem Abend aus waren, erzählte ich was von Monopoly und Pyjamaparty. Der Abend lief fantastisch und das Bier in Strömen. Alles war perfekt geplant, bis mir ein fataler Fehler unterlief: Ich verließ die Wohnung, um von der Tankstelle ein Sixpack nachzukaufen. Als ich zurückkam und den Flur betrat, nahm ich verwirrt zur Kenntnis, dass unser Handlauf mit Schlüpfern unbekannter Herkunft dekoriert worden war. Alle Lampen waren herausgedreht und zu einer Pyramide getürmt worden. Ich tastete mich die Treppe zu unserer Wohnung hinauf und betrat diese schließlich. Im Wohnzimmer tobte der reinste Goa-Rave. Joakim war gerade dabei, sich mit der Brosche meiner Mutter ein Bauchnabelpiercing zu stechen, Til und Romina fummelten auf der Couch, während Martens verklärter Blick mir verriet, dass man in meiner Abwesenheit Papas Minibar entdeckt und geleert hatte. Ich drehte mich in Richtung Küche, hoffend, dass wenigstens diese betretbar war. Der Inhalt des Kühlschranks klebte an der Decke, der Boden war gepflastert mit Post-Its und alle Stühle der Essgarnitur standen in Reihe auf der Arbeitsplatte, deren Unversehrtheit meiner Mutter sehr am Herzen lag. Inmitten dieses Chaos lagen Miriam und Jens. Vereint in unschuldiger Liebe vervollständigten die beiden die sich mir bietende Groteske. Vorm Küchenfenster, welches in die umliegenden Gärten blicken lässt, tobte eine Schlacht zwischen den „Intellektuellen“ und der „Gegenpartei“ um ein mutwillig zerstörtes Kleinod, welches beim Rasenmähen dem Weedcutter3000 der „Intellektuellen“ in die Quere gekommen sein soll. Ich wandte mich ab und begann aufzuräumen, was noch nicht festgetreten oder in die Fugen eingezogen war. Parallel dazu fühlte ich mich gezwungen, in langsam aufkeimender Panik die ersten Partygäste rauszuschmeißen. Als ein blutüberströmter Joakim motorisch schließlich nicht mehr in der Lage war, mir zu helfen, hielt ich kurz inne. Der beste Mitschüler von allen blickte mich selig grinsend an und sagte: „Ich wusst´ gar nicht, was für´n schicken Mercedes deine Eltern fahren!“ und deutete dabei in Richtung Einfahrt. Mein Aufräumtempo wurde auf ein vielfaches beschleunigt, als die bedrohlichen Schritte meiner Erziehungsberechtigten der Wohnungstür näherkamen. Ich resignierte schlussendlich und ließ das Unheil unter Joakims nervösem Quietschen seinen Lauf nehmen. Der erstickte Schrei meiner Mutter holte mich auf den Boden der elterlichen Sanktionen zurück. Mein Vater inspizierte das Wohnzimmer, meine Mutter folgte kreidebleich. Gott, wie ich meine Blödheit bereute! Dann war es zu spät: sie betraten die Küche. Draußen rumorte es heftig. Während meinen Eltern auch das letzte Heiterkeitsfältchen aus dem Gesicht gefallen war, hatte „die Gegenpartei“ aufgerüstet und versuchte nun, mithilfe einer Mischung aus Mofa und BobbyCar die tragenden Wände der feindlichen Gartenlaube einzureißen. Der Konflikt war gelöst, Vergeltung erfolgt… Mir war klar, dass meine Eltern ihre Küche rächen würden. Noch heute warte ich darauf. Im Grunde kann ich mich guten Gewissens als Wohlstandskind bezeichnen. Nie hatten meine Eltern zugelassen, dass ein politisch oder religiös geprägter, wahlweise auch von konsumanregenden Medien genährter Schatten mein kindliches Gemüt streift. Selbiges galt übrigens auch für Hundewelpen und Piercinginstrumente jeglicher Art. Stets um mich besorgt machten meine Eltern aus so mancher Pfütze einen Swimmingpool und nicht wenige Kleinigkeiten wurden bis zum Erbrechen ausdiskutiert. Grenzwertig wurde es erst, als mit dem Einsetzen meiner Pubertät das erste Mal die norwegischen Blackmetal-Knüppler Dimmu Borgir aus meinem „Bussi-Bär“-Karaokeradio ballerten, während meine Mutter schon „In einem Land vor unserer Zeit“ bedenklich fand. Selbstverständlich orakelte ich bereits damals, dass meiner Familie einfach die seelische Tiefe fehlte, um derartigen skandinavischen Wohlklang angemessen würdigen zu können. Zu einem festen Ritual innerhalb der Familie gehört seit eh und je der alljährliche Besuch einer Landes- oder Bundesgartenschau, was auf mich in etwa so verheißungsvoll wirkt, wie eine Physikdoppelstunde mit den Füßen in hitzesprudelndem Frittierfett. Ganz im Gegensatz zu meinem Vater haben derlei Veranstaltungen auf meine Mutter erotisierenden Einfluss. Bevor ich meine Mutter kennenlernte, hatte ich nie eine erwachsene (!) Frau vor einem Strauch undefinierbarer Multicolor-Wucherung schwitzige Hände bekommen sehen. Ähnlich umständlich, wie sie Kaffee serviert, bahnt sich Mama den Weg durch hunderte gelangweilte, schwitzende, turtelnde, bierbäuchige, kinderwagenschiebende LaGa-/BuGa-Besucher, deren emotionale Bandbreite beim Anblick von gefühlten 1 000 000 Hektar Verbrechen am freien Gestaltungswillen der Natur der eines Handyladegerätes gleicht. Papas und mein Plan, den Anschluss nicht zu verlieren, wird von einer mehr als puristischen Grabbepflanzung vereitelt: Neun halbverreckte Zwerg-Kiefern erkämpfen sich nadelnd etwas Grundwasser. Amüsiert verweist mein Vater auf die Ähnlichkeit mit dem Albumcover des Beatles-Werkes „Abbey Road“ und gibt schließlich seinem Spieltrieb nach, indem er kichernd einen Zebrastreifen aus Ascheserpentin streut. Zeitgleich mit dem Gesicht meiner soeben zurückgekehrten Mutter verdunkelt sich auch der Himmel, sodass ich meinen Gedanken, die Grabbepflanzung gleiche ja wohl eher den apokalyptischen Reitern, als vier britischen Pilzköpfen, lieber unausgesprochen lasse. Fast unterwürfig folgt mein Vater seiner Frau, die unter hektischen Tippelschrittchen und einem wenigstens ihr logisch erscheinenden Weg von einer geschmacklos begrünten Fläche zur anderen eiert. Mit einer langsam in der Sommerhitze vergehenden Blume in der Hand nehme ich die Verfolgung auf, als mein Blick plötzlich auf eine lange verlassene Industrieruine Gronauer Hochzeiten der Garnproduktion fällt. Das Gefühl einer undefinierbaren Urangst, gepaart mit überwältigender Todesgewissheit, sowie einem Moment der Gottesferne und schattenhaften Existenz eines nutzlos schlagenden Herzens inmitten feinster holländischer Tulpen bemächtigt sich meiner. „Irgendwann wird das nicht mehr so sein“, sagte meine Mama oft, als ich noch klein war und meinte damit unsere allabendlichen Kuschelstunden. Nie habe ich ihr geglaubt – war sie mir doch das Wichtigste auf dieser Welt. „Irgendwann wird das nicht mehr so sein“, sagte meine Mama oft, als ich schon älter war und selbst mir auffiel, dass „Ich hab dich lieb!“ im Hause Päsler rar geworden war. Angst ergreift mich, als ich realisiere, dass das Kostbarste in meinem Leben, Mama und Papa, so zerbrechlich war, wie die Blume in meiner Hand. Im gleichen Moment sehe ich allerdings auch ein, dass ein Nervenzusammenbruch im Tulpenfeld zwar höchst eindrucksvoll, jedoch kontraproduktiv in Bezug auf meine mühsam erwirtschaftete Fassade der unzerstörbaren Tyrannin wäre. Ich erlaube mir stattdessen, die schlaffe Blume mit genügend Vertrauen in ihren baumelnden Wurzelrest fachmännisch einzupflanzen und zu wässern. Mein Blick fällt auf meine Eltern, die quiekend beim Blumen-Glücksrad abräumen. Für diesen Moment tut mein Herz jeden Schlag für sie. Schon lange weiß ich es, doch heute nehme ich es mir vor: Ich werde mich ändern! Ich muss es tun. Wie wiedergeboren stürze ich mich ins Auto und warte, bis meine Eltern den gewonnenen Dschungel im Wagen verstaut haben. Auf der Heimfahrt bin ich mir sicher, in Zukunft meine Prioritäten zu kennen, meine Nerven kontrollieren zu können und nie nie nie wieder etw….. „Marinaaaa?!“  - wir sind zu Hause - „Es ist der Schlüssel, wo BKS draufsteht!“ Danke Mama, ich weiß, mit welchem Schlüssel ich seit 13 Jahren unsere Haustür aufschließe, will ich rufen. Stattdessen: „Ach Mama, halt die Klappe!“